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Es gibt Psychologen, die der Meinung sind, das Computer und Computerspiele eine pädagogische Tugend sind und Kinder schlau machen sind.
Sie hat eine nette Stimme am Telefon. Sie ist Redakteurin im Rundfunk, sagt sie und fragt, ob ich zu einem Interview bereit sei. “Ein kritisches Interview!“, ergänzt sie vorsichtig. Mir ist es recht. Ich hab nämlich in einem Buch und in einigen Vorträgen und Diskussionen folgende These aufgestellt: Computer machen Kinder schlau.
Seither bin ich kritische Interviews gewohnt.
“Eine waghalsige These…“, sagt die nette Redakteurin-Stimme.
So gewagt ist sie gar nicht, sage ich. Eigentlich liegt alles klar auf der Hand.
“Also fangen wir an?“, fragt sie. “Mir ist schon vor einigen Jahren aufgefallen, dass Kinder von den digitalen Medien geradezu magnetisch angezogen werden. Irgendetwas in der kindlichen Psyche scheint den Wirkungen, den Bildern und Klängen, Spielen und Interaktionen im Computer entgegenzukommen.
Was ist so ,kindgerecht’ am Computer?“
Zum Beispiel mein kleiner Sohn. Heute dreizehn, seit Jahren ein Computerfan. Schon als Zehnjähriger kam er prustend und atemlos aus der Schule, schleuderte seine Schultasche in die eine, den Anorak in die andere Ecke und fragte: “Darf ich Computerspielen?“
Er durfte - aber nur, wenn ich allein zu Hause war. Die pädagogische Tugend des “Nein-Sagens“ steht mir nur sehr begrenzt zur Verfügung. War meine Frau anwesend (wie alle Frauen wesentlich autoritärer als ich), musste er zuerst seine Schularbeiten erledigen. Das tat er mit dem seufzenden Gehorsam seiner zehn Jahre, fluchte und ächzte leise vor sich hin, während er Schriftzeichen und Zahlen aufs Papier malte, korrigierte, rechnete - und schließlich, am Ende der hastig abgearbeiteten Aufgaben wieder fragte: “Darf ich jetzt an den Computer?“
Er durfte. Und was tat (und tut auch heute noch) dieser erstaunliche Knabe, während er breit strahlend vor dem Monitor hockte? Er schrieb, malte, rechnete… Er tat im Großen und Ganzen just das, was ihm vorher so viel Mühe bereitet hatte. Und er tat es mit Ausdauer, Geduld und einer schier unerschöpflichen Freude an Symbolen, symbolischen Objekten, Rationalität und Logik, kurzum: am Lernen.
Sein Vater, Kinderpsychologe und Buchautor, schaute ihm währenddessen sinnend zu und fragte sich: “Warum ist das so? Was unterscheidet das Lernen auf dem Papier von den Symbolwelten am, oder besser im Computer?“ Das war vor drei, vier Jahren.
Seitdem sind viele Kinderpsychologen, Psychiater und vor allem zahllose Lehrer und noch mehr Eltern mit einem Phänomen konfrontiert worden, das sich offensichtlich grassierend ausweitet: Aufmerksamkeitsschwäche, Konzentrationsmangel, impulsives bis hysterisches Verhalten. In meiner psychologischen Praxis (wie in anderen auch) wurde dieses Problem vorrangig. Und wieder stolperte ich über das selbe Phänomen: Ein zehn- oder ein dreizehnjähriger Junge (es sind zum weitaus größten Teil Jungen, die betroffen sind), der keine zwei Sekunden still auf einem Stuhl sitzen bleibt, hin- und herrutscht, die Augen unermüdlich in Bewegung, seine Aufmerksamkeit auch… Man kann geradezu sehen, wie der Fokus seiner Wahrnehmung hin und herschwirrt, hierhin, dorthin, selten zu jener Person, die gerade mit ihm spricht (nie zu dem, der ihn gerade ermahnt, das nebenbei!).
Und wieder: Ich setze den Jungen vor den Computer, lege eine ordentliche Spiele-CD ein (keine Ballerei, keineswegs, ich spreche von Strategie- oder Adventure-Spielen mit oft kniffligen Fragen und komplexen Anforderungen an das logische und sinnliche Wahrnehmungsvermögen), und der selbe Junge (man mag es manchmal kaum glauben) bleibt still und konzentriert auf dem Stuhl sitzen, fokussiert seine Aufmerksamkeit auf den Punkt, auf den es jeweils ankommt, leistet das, was die Lerntheorie “Differenzierung“ nennt und als Grundlage allen Lernens angibt, und ist kaum davon wegzubringen.
Was passiert da, warum ist das so? Und warum gibt es so viele Lehrer, Psychologen und sogar Eltern, die diese kaum zu leugnende Tatsache keineswegs freudig begrüßen und nutzen, sondern besorgt die Stirn in Falten legen und manchmal die abenteuerlichsten Bedenken vorbringen? Die Antwort auf die zweite Frage ist einfach: Sie haben Angst. Viele Lehrer, viele psychologische und pädagogischen Fachleute und viele Eltern auch.
Was macht ihnen Angst? Auch das ist leicht zu verstehen - und nachzuvollziehen: Ihnen macht Angst, dass Computer und Internet eine Jahrhunderte alte Tradition brechen. Immer war es im Verhältnis der Kinder zu Lehrern und Eltern so, dass die Erwachsenen im Vorteil waren. Sie verfügten über gesammelte Lebenserfahrungen, die dem Kind natürlicherweise fehlten. Sie wussten Vieles und beherrschten nützliche Techniken, die das Kind nicht beherrschte. Sie waren der nachfolgenden Generation erkennbar und unzweifelbar in Vielem voraus und hatten insofern das Recht und die Pflicht, ihr Wissen auf ihre Weise weiterzugeben.
Das hat sich nun geändert - und das ist ein Problem. Es geht nämlich gar nicht nur darum, dass viele Kinder im Internet besser zurecht kommen als ihre Eltern (ihre Lehrer sowieso)! Es geht um viel Prinzipielleres. Die Kinder denken anders, sie lösen Probleme anders, ihre Werte sind anders (zumindest, solange sie sich im Cyberspace aufhalten), ihre Tugenden auch. Es geht nicht nur um ein paar Apparate, die zusätzlich zu Radio und Fernsehen im Wohnzimmer herumstehen. Es geht darum, dass eine ganz andere Phase unserer abendländischen Geschichte beginnt.
Das macht Angst. Verständliche Angst. Berechtigte Sorgen.
Und trotzdem: Wir dürfen diesen Sorgen (wie den Ängsten überhaupt) nicht allzu sehr nachgeben. Dann werden sie schädlich.
Die Kinder fühlen das Neue. Sie wittern es. Und sie ahnen, dass das Neue auf ihrer Seite ist. Das ist, so ungenau es klingt, ein wichtiger Punkt - vielleicht der wichtigste.
Diese flüchtigen Symbolwelten in den Computerspielen und im Übertragungsnetz sind unabsehbar, sie erscheinen unerschöpflich. Bildwelten tun sich im Spiel auf, Schatzkammern des Wissens und der Kommunikation im Internet. Und jedes Mal, wenn ein Bereich betreten wird, tun sich dahinter und darunter andere, neue Bereiche auf, alles mit einem Klick, anstrengungslos zu erreichen, und mit einem Klick wieder zum Verschwinden gebracht. Fernwelten, die so unterschiedlich sind von dem normierten Nahraum der täglichen Mühsal, des Lernens und Gehorchens, dass es gerade für die schwierigen Kinder wie eine Befreiung wirkt. Auch die Tatsache, dass, wie ich schon sagte, ein Klick, eine leichte Handbewegung ausreicht, um etwas auf dem Bildschirm erscheinen oder verschwinden zu lassen, auch diese Gleichzeitigkeit von Existieren und Nicht-Existieren übersteigt den Raum der täglichen Erfahrungen und wirkt wie eine Befreiung.
Hier trauen sie sich wieder, trauen sich allerhand zu, die lernbehinderten, legasthenischen, aufmerksamkeitsgeschwächten und überaktiven Kinder. Gerade in diesen flüchtigen Räumen fühlen sich unsere kleinen “Speedys“ seelisch wie zu Hause. Alles ist leicht, fließend, beherrschbar und trotzdem großartig - “cool“ würden sie wohl sagen. Sie lieben das, und nicht nur die gefährdeten, die schwierigen Kinder, sondern alle!
Und dann kommt noch etwas hinzu. Etwas, das in der psychologischen Literatur zu Computerspielen bisher wenig oder überhaupt nicht beachtet wurde (weiß der Himmel, warum nicht - vermutlich, weil Psychologen und Pädagogen mit ästhetischen Phänomenen so wenig anzufangen wissen…?):
Der Monitor, der Raum im Computer, ist ein Lichtraum! Lichtbilder, Lichtpunkte in ständiger Bewegung. Das hatte schon das Kino zur “Traumfabrik“ werden lassen, dieses Geschehen aus fließendem Licht, in dem alles, auch noch der verwegenste Wunschtraum auf geheimnisvolle Weise als möglich, zumindest als plausibel erscheint. Licht ist ein Geheimnis. Auch heute noch. “Ich werden den Rest meines Lebens damit zubringen, über das Geheimnis des Lichts nachzudenken.“, schrieb Albert Einstein am Ende seines Lebens. Er hat es nicht gelöst.
Mit diesem Geheimnis, mit der Magie des Lichts spielen unsere Kinder, befreit in weichen Symbolwelten. Das ist es. Das unterscheidet das Lesen und Malen, die Schriftzeichen und die Zahlen im Computer von denen, die auf Papier, in Buchseiten, auf Schiefertafeln oder sonst wo fixiert sind.
Alle Fragen beantwortet?
“Nein“, sagt die angenehme Stimme am Telefon, “…alle nicht. Bei weitem nicht. Aber ein paar…“
Nun gut, damit bin ich dann auch zufrieden.
Ratgeber im Internet:
• www.feibel de
Die Seite von Thomas Feibel, Deutschlands führendem Experten für Kindermedien, der die bekannteste Wertung (Mäuse) vergibt und auch den Deutschen Kinder-Software-Preis TOMMI ins Leben gerufen hat! Sehr empfehlenswert!
• www.acos.at
Umfangreiche Software-Tipps-Seite des Landesgendreferats Oberösterreich, die getesteten Spiele sind aufgelistet in Altersgruppen und Genres, jeweils genau beschrieben und nach pädagogischen und spielerischen Kriterien beurteilt.
Autor: Wolfgang Bergmann
Wolfgang Bergmann
…selbst Vater von 3 Kindern, ist einer der profiliertesten Kinder- & Familienpsychologen Deutschlands, mit eigener, auf Lernprobleme spezialisierter Praxis in Hannover. Er hält zahlreiche Vorträge und ist Autor mehrerer Bücher über Neues Lernen, Kinder und Neue Medien.
Bücher z. Thema von W. Bergmann:
• DigitalKids - Kindheit in der Medienmaschine (beustverlag)
• Computer machen Kinder schlau (beustverlag)
• Erziehen im Informationszeitalter (Verlag dtv)
• Nur Eltern können wirklich helfen - Über Lernstörungen und Konzentrationsschwächen (Verlag Walter/Patmos)
weitere Infos: www.wege.at
Artikel aus Zeitschrift WEGE 2/03 zum Schwerpunkt “Schule & Arbeit”
Herzlichen Dank an WEGE, die uns immer mit interessanten Artikeln versorgt.
Die neue Zeitschrift von WEGE ist demnächst erhältlich.
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