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Viagra kann auch als Pille für die Frau eingesetzt werden, sie gehört zur zweiten sexuellen Revolution.
Viagra in einem Special zum Thema »Frauen heute« – warum?
Weil Viagra – wie der einundfünfzigjährige Hamburger Urologe Prof. Dr. med. Hartmut Porst¹ meint – auch eine Pille für die Frau ist. Damit sich das Selbstverständnis des Mannes ändert und es nicht dauernd in Verbindung mit seiner Erektionsstärke gebracht wird, muss man auch Frauen einen anderen Umgang mit der Sexualität des Mannes beibringen. Viele Frauen sind frustriert, wenn die Erektion beim Mann nicht zustande kommt und ziehen sich zurück: Sie vermuten, nicht mehr attraktiv genug für ihren Mann zu sein. Potenzstörungen sind jedoch nicht als Attacke gegen die sexuelle Ausstrahlung einer Frau, sondern als organisches Problem aufzufassen und sind oftmals der erste Hinweis auf eine schwere Gefäßerkrankung, die auch andere Körperregionen (z. B. das Herz!) betreffen kann
• Erektile Dysfunktion ist eine Krankheit, Viagra ursprünglich ein Heilmittel, nun wird aber die Wunderpille mehr und mehr als »Partydroge«² verwendet – es wird mit ihr herumexperimentiert so, als gehöre diese Erfahrung zum Lifestyle. Erschreckt Sie als Urologe diese Entwicklung?
Provokativ möchte ich dagegen fragen: Woher wissen Sie, dass Viagra zur »Partydroge« geworden ist? Sicher sind diese Potenzmittel immer wieder mal im Gespräch, dass sie Lifestyle- und Partydrogen sind, aber 95% der Anwender sind kranke Menschen, das sieht man klar und deutlich an der Verschreibungsstatistik, so dass diese Befürchtung, dass sie überwiegend als Partydroge genommen werden, aus der Luft gegriffen ist. Es ist richtig, dass Viagra immer wieder im Zusammenhang mit Ecstasy und Kokain Schlagzeilen gemacht hat, weil Viagra in dieser Kombination zum Tod führen kann. Aber man kann nicht von einer großen Lifestyle-Welle sprechen, in der dieses Mittel sehr freizügig auf dem Markt verwendet wird. Übrigens ist das Durchschnittsalter der Konsumenten von Viagra in den westeuropäischen Ländern Mitte/Ende 50 – das sind also ältere Menschen, die Viagra gewiss nicht als Partydroge verwenden.
• Sie sprechen von Viagra als »zweiter sexuellen Revolution« – was ist daran das Revolutionäre?
Es ist das erste Mal, dass mit einer Tablette die Mehrzahl der Männer mit erheblichen Potenzstörungen erfolgreich behandelt werden konnte. Das hat es bisher so nicht gegeben. Dieses Potenzmittel war also ein großer Durchbruch, der unter anderem auch erheblich dazu beigetragen hat, dass Sexualstörungen enttabuisiert wurden, zwar noch nicht vollständig, aber man spricht heute in der Öffentlichkeit viel öfter und viel offener darüber als in der Zeit, bevor Viagra auf den Markt kam – da waren ja die Sexualstörungen weitgehend tabuisiert. Für die Behandlung von Sexualstörungen ist das eine Revolution vergleichbar mit der Antibabypille, durch die die Sexualität plötzlich freier wurde. Genauso, finde ich, macht heute Viagra die Sexualität freier, weil sie vielen Menschen – nicht nur Männern – den Sex ermöglicht, den sie vorher nicht haben konnten. Viagra ist im Grunde auch eine Pille für die Frau – denn Frauen sind meistens sehr frustriert, wenn die Erektion beim Mann nicht zustande kommt und ziehen sich dann meist zurück und meinen, sie seien nicht mehr attraktiv für ihren Mann oder er habe eine Geliebte. Bei einer überwiegenden Mehrzahl der Männer ist aber beides nicht der Fall; bei den meisten ist es wirklich ein organisches Problem und hat mit der Attraktivität der Frau nichts zu tun.
• Inwiefern tragen Frauen mit die Verantwortung dafür, dass Männer so fixiert sind auf ihren Penis, als würde sich alles um diese eine »Weltachse« drehen?
Für die Mehrzahl der Frauen – und das haben viele Studien gezeigt – spielt der versteifte Penis eine große Rolle. Er ist so etwas wie ein Liebesbeweis. Wenn er sich nicht versteift, empfinden das die meisten Frauen als eine Attacke gegen ihre sexuelle Anziehungskraft oder Ausstrahlung. Insofern spielt der Penis effektiv eine Rolle. Das Selbstverständnis des Mannes ist sehr stark mit der Erektionsstärke seines Penis verbunden: Die Impotenz des Mannes bedeutet nicht nur, dass er nicht mehr »schnackseln« kann, sondern dass seine Leistungskraft ganz allgemein nachlässt. Das macht sich vor allem im Beruf bemerkbar. Diese psychische Beeinträchtigung kann zu schweren Depressionen führen. Die Integrität des Mannes bedeutet auch die Integrität dieses Organs – des Penis. In dem Augenblick, wo er nicht mehr funktioniert, funktioniert in seinem Selbstverständnis ein wesentlicher Bestandteil nicht mehr – der Grund, warum Männer da so verzweifelt sind und warum diese Potenzpille so einen Erfolg hat.
• Also müssten dann Frauen eine Art Schule des Eros passieren, damit sie mit Männern anders umgehen und diese ihr Selbstverständnis ändern?
Das ist eben der Punkt. Viele Frauen haben es nicht verinnerlicht, dass die Impotenz des Mannes nicht als eine Attacke gegen sie aufzufassen ist und dass es auch nichts mit anderen, vermeintlich attraktiveren Frauen zu tun hat, sondern dass es meist eine organische Erkrankung des Mannes ist – und man diese so zu untersuchen und zu behandeln hat. Das muss man den Frauen erst beibringen.
• Inwiefern müssten Männer mit Potenzstörungen eher zum Psychotherapeuten gehen?
Ich habe in Europa die größte Praxis auf diesem Gebiet. Mich konsultieren im Jahr 3000 Männer mit Potenzstörungen, und wenn ich diese Fälle alle anhand der Diagnostik analysiere – ich mache ja bei jedem eine genaue Diagnostik – , dann haben davon 60 % schwere organische Störungen und bei 40% ist eine psychische Ursache der Auslöser. Die psychischen Störungen kommen eher bei Männern unter 40 Jahren vor, während die organischen gehäuft bei Männern über 50 auftreten. – Es wäre nun sinnvoll, dass diese 40% der Männer in Sexualtherapie gehen, aber es gibt nur für 2% dieser Männer überhaupt Therapieplätze, wo sie innerhalb der nächsten sechs Monate untergebracht werden könnten. Die Mehrzahl muss leer ausgehen, weil wir viel zu wenige Sexualtherapeuten haben. Aus diesem Grund ist man gezwungen, die meisten Männer mit psychischen Störungen mit Tabletten zu behandeln – es gibt für sie einfach keine adäquate Therapie in einem Zeitraum von drei bis sechs Monaten. Das ist ein großes Problem!
• Dabei gibt es ja so viele therapeutische Richtungen, die vielleicht auch tauglich wären, zum Beispiel Familientherapien. Oder meinen Sie, dass nur Sexualtherapeuten geeignet sind?
Menschen mit Sexualstörungen und Partnerkonflikten müssen eben zu einem Therapeuten gehen, der auf dem Gebiet der Sexualität und Partnerschaft spezialisiert ist, nicht zu einem x-beliebigen. Menschen, die speziell dafür ausgebildet sind und so etwas anbieten, gibt es nicht viele. In einer Großstadt wie Hamburg könnte ich allein mit meiner Praxis innerhalb von einem Jahr die Sexualtherapeuten und die ganze Abteilung Sexualforschung der Universitätsklinik für die nächsten zehn Jahre ausbuchen. Stellen Sie sich vor – nur mit meinen Patienten aus einem Jahr!
Dann gibt es auch noch ein weiteres Problem – und zwar in den ländlichen Gebieten. Für viele Männer ist eine Sexualtherapie gar nicht möglich, weil sich der nächste Sexualtherapeut 60 oder 100 km entfernt befindet – das ist rein technisch für viele gar nicht machbar, jede Woche zu einer Therapiestunde so viele km zu fahren.
• Viagra wird in den Medien als »Sieg über die Vergänglichkeit« gefeiert. Ist es nicht eher so, dass wir uns mit dem natürlichen Alterungsprozess nicht abfinden wollen?
Das Problem ist natürlich, dass die sexuelle Leistungsfähigkeit des Mannes im Alter deutlich nachlässt, in vielen Fällen bis hin zur Impotenz. Nun stellt sich hier immer die Frage, ab wann ist Impotenz »normal«. Umgekehrt jedoch stellt man fest – und das zeigen Studien klar und deutlich – , dass 50-60% der Männer im Alter zwischen 60 und 80 sexuell aktiv sind, können aber oftmals den Verkehr nicht mehr durchführen, weil die Erektion nicht mehr zustande kommt. Warum sollte man solchen Männern mit einer Pille nicht zu einer vernünftigen Erektion verhelfen, zumal das Bedürfnis da ist und die sexuelle Aktivität sowieso betrieben wird? Wenn das Bedürfnis bei der alten Bevölkerung nicht da wäre, wenn man also ein künstliches Bedürfnis herbeiführen wollte, ein Bedürfnis, das nicht da ist, dann wäre das etwas anderes. Aber wir wissen aus Studien, dass das Bedürfnis da ist.
• Sie meinen also nicht, dass Viagra geradezu dieses Bedürfnis künstlich schafft?
Nein, das haben Studien in Europa, Japan, Amerika gezeigt – das Bedürfnis nach Sexualität ist auch im Alter ungebrochen, bei Mann und Frau.
• Einen Eros des Alters könnte man sich aber vielleicht auch ohne Erektion vorstellen.
Ich hatte vorhin ein Paar hier in meiner Praxis – beide können keinen Verkehr mehr haben aufgrund einer schweren Erkrankung bei der Frau und kompletter Impotenz beim Mann. Trotzdem verzichten die beiden nicht auf Sex, aber er wird mit einem weichen Penis vollzogen. – Natürlich kann sich im Alter eine spezielle Form des Eros entwickeln, aber das Genitale spielt auch hier immer eine Rolle. Der Eros im Alter ist nicht extra-genital.
• ... wie es sich vielleicht Platon gewünscht hätte, er möge sich aufs Geistige verlagern …
Nein, gewiss nicht!
• Welches könnte unser Zukunftsszenario sein? Nehmen wir an, wir würden wie Regisseur Emmerich mit »The day after tomorrow« einen Film zum Thema »Jugendlichkeitswahn« drehen. Dann könnte das Szenario etwa so aussehen: Die Frauen eilen zum Schönheitschirurgen, während sich Männer Viagra verschreiben lassen!
Die Generation, die jetzt zu altern anfängt, die so genannte 68er Generation, akzeptiert es einfach nicht mehr so wie unsere Altvorderen, dass der Körper verwelkt. Diese Akzeptanz ist in meiner Generation noch gegeben, aber wir haben jetzt eine ganz andere Generation, die Unzulänglichkeiten nicht mehr hinnehmen möchte und dafür Reparaturprozesse in Gang setzt – im Sinne von: »Man bringt sich wieder auf Vordermann«. Das ist eine reine Generationenfrage. Die ganz junge Generation, die 15 bis 20-Jährigen, wird gewiss noch eins draufsetzen, wenn die dann mal altern. Sie wird womöglich ihre Lebensfreude und ihren Egoismus noch viel mehr ausleben wollen. Das, was sich heute abspielt, ist der Beginn einer ganz neuen Ära, wo man schließlich auf das perfekte Äußere und Outfit aus ist.
• Wie empfinden Sie persönlich diese Entwicklung?
Ich verurteile diese Entwicklung nicht. Ich habe nur meine Bedenken, dass die Männer und Frauen immer selbstbezogener werden, was sich dann auch vor allem im Sexuellen zeigen wird: Sie wollen ihre Lust ausleben und denken dabei weniger partnerschaftlich. Aus dieser Gesellschaft wird in den nächsten 50 Jahren eine sehr egozentrische Gesellschaft – auch was den eigenen Körper und seine Gestaltung anbelangt. Ob das nun der richtige Weg ist, möchte ich dahin gestellt sein lassen.
Dieses Interview ist erschienen im Connection-Special Nr. 73 IV/2004
Autorin: Ingeborg Szöllösi im Gespräch mit Hartmut Porst
weitere Infos: www.connection.de
1) Hartmut Porsts Mitgliedschaften: Deutsche Gesellschaft für Urologie; Beirat des Arbeitskreises Andrologie der DGU; Mitglied Arbeitskreis »Der alternde Mann« der DGU ; Berufsverband der Deutschen Urologen; International Society of Sexual and Impotence Research (ISSIR); European Society of Sexual Medicine (ESSM); European Society for Male Genital Surgery (ESMGS); Editorial Board International Journal of Sexual Medicine; Active Member of the WHO First Consultation on Erectile Dysfunction 1999 and Second Consultation 2004; European Association for Urology (EAU); Chairman des Europäischen Kongresses der European Society of Sexual and Impotence Research 01.-04.12.2002, Hamburg
2) Im Spiegel 7/2004 erschien unter dem Titel »Männer sind so kompliziert« ein vierseitiger Artikel zum Thema Viagra. »Mr. Viagra«, jener, der die »Pille für den Mann« entdeckt hat, ist der Forscher Ian Osterloh, der in einem Forschungszentrum in Sandwich, einem Ort an der englischen Südostküste, das der US-Pharmafirma Pfizer gehört, ein Mittel gegen Angina pectoris suchte – die Nebenwirkung dieses Mittels war: ein steifer Penis, und dies die Geburtsstunde von Viagra.
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